Wir sollten darüber reden: Frauen und Depressionen. Meine Mama war eine von ihnen.

An dich

Ich weiß genau, wie du dich fühlst. In einem Moment würdest du am liebsten dem Vollpfosten an der Kasse ins Gesicht schreien, er könne der Kassiererin doch wenigstens mal ein »Hallo« zugestehen, im nächsten rinnen dir still und leise die Tränen über die Wangen, weil du dieses Lied hörst, und wieder in einem anderen fühlst du dich einfach nur unendlich hilflos und allein. Vielleicht ist es bei dir aber auch ganz anders und du verpackst Sachen in Kartons, gehst jeden Morgen zehn Kilometer laufen und lernst ein neues Instrument. Sprichst mit deinen engsten Freunden, deinen Geschwistern, deinen Eltern, mit Leuten, von denen du nie gedacht hättest, wie empathisch sie sind, mit Leuten, die es einfach nicht verstehen, mit Menschen, bei denen du spürst, wie unsicher und ohnmächtig sie dir gegenüber sind, mit alten Freunden. Oder du ziehst dich zurück, willst nichts und niemanden hören und sehen, weil alles dunkel ist. Vielleicht machst du dir Vorwürfe, nicht genug getan, zu wenig darüber gewusst, deine Augen davor verschlossen zu haben. Gibst dir, jemand ganz Bestimmtem oder der ganzen verschissenen Gesellschaft die Schuld daran. Und hast Angst vor Einsamkeit, davor, dass auch dir das passieren könnte, dass du damit einfach nicht umgehen kannst, dass deine Kinder sich irgendwann kaum noch an ihr Gesicht erinnern.

Was du auch fühlst, was du auch machst oder nicht machst, was du auch denkst, wovor du auch Angst hast: Es ist okay. Und: Du bist nicht allein damit. Wir kennen uns vielleicht noch nicht, aber ich möchte dir gern ein kleines Stück meiner Geschichte erzählen – denn es muss endlich aufhören, dass kaum ein Mensch darüber redet, dass alle nur betreten zu Boden schauen und das Tabu in die nächste Generation getragen wird. Vielleicht erkennst du etwas wieder, vielleicht nicht, aber eines kann ich dir versprechen: Es wird besser. Mit der Zeit. Und dem Wissen, das alles nicht allein durchstehen zu müssen. Auch wenn einem das im ersten Moment so vorkommt – weil einfach niemand darüber spricht. Da mache ich nicht mehr mit. Was ist mit dir?


Ich war 16 Jahre alt, als meine Mam das erste Mal Depressionen hatte. Jedenfalls soweit ich weiß. Für mich war es eine Zeit, in der ich gerade damit begann, meine Liebe zu Frauen zu entdecken und zu verarbeiten. Als Teenager ist man ja sowieso hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt. Plötzlich verhielt sich meine Mutter dann so seltsam, wurde fahrig, vergaß wichtige Dinge, starrte stumm vor sich hin, schrie meinen Vater an. Ignorierte mich. Was für ein Scheißgefühl. Ob sie wusste, dass ich lesbisch bin? War sie deshalb so? Diese Phase zog sich eine ganze Weile hin und schien sich auf irgendetwas mir noch Unbekanntes zuzuspitzen. Damals hatte ich noch keine wirkliche Ahnung, was eine Depression ist, und was das eigentlich heißt. Ich merkte nur, wie schlecht es meiner Mam und unserer Familie damit ging. Eines Abends kam mein kleiner Bruder (er war damals 12) zu mir ins Zimmer. Ganz verstört und mit zittriger Stimme sagte er: »Ich glaube, Mami hat sich gerade von mir verabschiedet.« Panisch rannte ich die Treppe nach unten, riss jede Tür auf, schrie nach ihr. Inzwischen streichelte meine elfjährige Schwester unserem Bruder beruhigend über den Kopf. Oh Gott, hätte ich lieber das zuerst tun sollen? Kopflos rannte ich weiter umher, bis mein Vater von unten polterte, was denn das für ein Lärm sei, und sich oben im Bad die Tür öffnete und meine Mam ihren Kopf rausstreckte. Es war alles gut. Was sie jedoch im Bad eigentlich vorhatte, ob sie irgendwelche Hilfsmittel bei sich hatte, das wusste ich nicht – und ich wollte es mir auch gar nicht ausmalen. Heimlich weinte ich mich in den Schlaf und dachte immer wieder: Wie kann sie nur so sein? Wie kann sie ihren Kindern nur solche Angst machen? Liebt sie uns gar nicht? Die Zeit verging, heute weiß ich nicht mehr genau, wann und wie das Leben wieder anfing, normal zu werden, aber irgendwann war es so und keiner sprach mehr über diese schreckliche Zeit. Ich weiß noch, wie seltsam ich das fand – gerade so, als hätte sie einfach nur eine schlimme Grippe gehabt.


Ich war schwer verliebt. Es ging mir auf den Keks, immer abzuchecken, wann meine Eltern nach Hause kommen, um ja nicht – furchtbare Vorstellung – beim Sex erwischt zu werden. Hey, ich war Studentin und wollte, wie alle anderen auch, abends einfach auf die heißen Partys gehen, nachts einen Döner essen und mir sieben Sternis nacheinander hinter die Binde kippen. Rock ’n‘ Roll, Baby! Mit 21 war ich bereits ein wenig aufmerksamer, was meine Umwelt betrifft und merkte, dass meine Mam wieder anfing, seltsame Dinge von sich zu geben, permanent das Haus putzen zu wollen, weil doch die Nachbarn gucken, aufgesetzt zu lächeln, sobald sie merkte, dass man sie beobachtete. Ich fühlte mich so ausgelaugt, die Stimmung zu Hause war unterirdisch, um es freundlich auszudrücken. Jeder schlich um jeden rum. Dabei sollte das doch die fröhlichste Zeit meines Lebens sein?! Das wurde mir alles zu viel, es machte mich regelrecht mürbe, nicht ich selbst sein zu können. Ich wollte ausziehen. Schnell fand ich einen für mich den Inbegriff einer WG darstellenden Haufen verrückter Leute in einer, zugegebenermaßen, seeeehr einfachen – manche würde sagen, heruntergekommenen – Behausung. Das war es auch, was meine Eltern unmissverständlich äußerten, als sie das erste Mal da waren. Sie waren nicht nur entsetzt, sondern enttäuscht, dass ich eine solche Bruchbude ihrem Zuhause vorzog. Das war Ende Oktober. Im Dezember wurde es bei meiner Mama immer schlimmer. Sie machte sich über alles Sorgen. Ob das Haus auch sauber ist, ob meine Schwester die richtigen Freunde hat, mein Bruder nicht zu viel Sport macht und ich nicht doch wenigstens bi sein könnte. Sie machte aus jeder Mücke einen Elefanten, war sich absolut sicher, dass niemand sie leiden konnte und alle Leute nur über sie herzogen.

Heiligabend. Trotz des ganzen Stresses freute ich mich schon sehr auf die Feiertage, sie waren immer schön – alles wurde ganz liebevoll geschmückt, es duftete nach Weihnachtsbaum und Lebkuchen, wir sangen und spielten gemeinsam Weihnachtslieder (ja, wie im Film). Doch nicht in diesem Jahr. Völlig verheult saß mein Papa auf den Stufen vor dem Haus, als ich gut gelaunt auf ihn zuschlenderte. »Oh Gott, ist sie tot?«, schoss es mir durch den Kopf. Ich zwang mich, zu fragen, was denn los sei. Gerade sei meine Mutter vom Krankenwagen abgeholt worden, um sie in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie einzuweisen, weil sie versucht hätte, sich das Leben zu nehmen. Bemüht, nicht zusammenzubrechen, umarmte ich kurz meinen Papa und suchte dann meine Geschwister, damit wir uns festhalten konnten. Den geistreichen und höchst empathischen Kommentar, den meine Großmutter damals von sich gab, als auch sie eintraf, verkneife ich mir an dieser Stelle – aber ich kann sagen, dass er sich tief in meine Seele gebrannt hat und ich sie seit diesem Tag mit anderen, deutlich nüchternen Augen gesehen habe. Sie war nicht ein einziges Mal bei ihrer Tochter in der Klinik …

Es war erschreckend, meine Mam in der geschlossenen Abteilung zu besuchen. Doch das musste ich, sonst fühlte ich mich noch schuldiger. Ja, ich dachte damals, das sei alles meine Schuld. Die Nachbarn reden, weil ich lesbisch bin. Dann ziehe ich auch noch in eine Bruchbude. Das machte sie so traurig und enttäuschte sie, dass sie sich das Leben nehmen wollte. Das war meine unerfahrene und jugendliche Logik. Und zwischendrin immer der Gedanke: Ich will einfach meine Mama zurück. Denn das kleine Häufchen Elend, das da im Besucherraum saß, war nicht meine Mam. Ich fühlte mich wie ein Kind, das man irgendwo ausgesetzt und dem man dazu noch das Lieblingskuscheltier weggenommen hatte. Obwohl nicht ich in der Psychiatrie saß, fühlte ich mich so unendlich allein und leer.

Mein Studium dümpelte so vor sich hin, nur geistloser Scheiß, mit dem ich mich da beschäftigen sollte. Was wissen die schon?! Ich blieb immer häufiger einfach im Bett, schließlich waren die Nächte lang, die Blicke ins Glas sehr tief und der Dauerbrandofen in der Nacht ausgegangen. Es war einfach netter unter der dicken Bettdecke. Irgendwann war alles an mir schwer. Schon der Gang in die Küche oder ins Bad war mit unendlich viel Kraft verbunden, die ich nicht bereit war, aufzubringen. Und dann merkte ich es: Ich war dabei, in Selbstmitleid zu versinken und abzudriften. Aber so wollte ich eigentlich gar nicht sein, ich liebte das Leben und wollte noch so vieles Spannendes erleben. Also suchte ich mir Hilfe. Gut, die ersten beiden Versuche, eine Therapeutin zu finden, waren nicht wirklich von Erfolg gekrönt. Das passte einfach nicht. Zum Glück hatte ich irgendwo gelesen, dass es ganz natürlich sei, wenn es eine Weile dauerte, bis man die richtige Therapeutin findet, bei der man sich wirklich öffnen kann.

Nachdem meine Mam nach langer Zeit von der geschlossenen über die halboffene bis zur offenen Station wieder nach Hause zurückkehrte, schien erst einmal alles gut. Es war wieder vorbei. Darüber geredet wurde auch diesmal nicht. Vorsichtig fragte ich an, ob sie denn jetzt eine weiterführende Therapie machte. Tat sie nicht, sie nahm ja Tabletten. Immerhin, dachte ich. Ganz die Alte war sie noch nicht wieder, aber ab und an sah ich sie schon wieder durchblitzen – meine lebenslustige Mam. Ich schenkte ihr das Buch »Depressionen für Dummies«, weil ich fand, dass dort wirklich gut, einfach und unbeschwert erklärt wurde, welche Ursachen die Krankheit haben kann, wie man damit umgeht – sowohl als Betroffene als auch als Angehörige –, was man selbst tun kann, um vorzubeugen etc. In regelmäßigen Abständen fragte ich nach Kleinigkeiten, die ich gelesen hatte: Was ihr Hormonhaushalt so macht, ob sie noch in dieser Sportgruppe ist, ob sie viel Fertigessen zu sich nimmt. An den Antworten erkannte ich schnell, dass sie nicht mal das Vorwort gelesen hatte. Sie war wieder gesund und gut.


Sieben Jahre später passierten so viele Dinge gleichzeitig – ich bin mir heut schon gar nicht mehr sicher, wie nun eigentlich die Reihenfolge war. Meine Freundin und ich verlobten uns und gingen ein paar Monate nach England zum Arbeiten. Die Freundin meines Bruders wurde schwanger, sie heirateten. Meine Schwester pendelte weiter zwischen München, wo sie studierte, und Halle, wo ihr Freund lebte. Mein Vater hatte seinen ersten Herzinfarkt, was sowohl für ihn als auch den Rest der Familie schwer zu verkraften war. Körperlich erholte er sich gut, hatte aber seelisch sehr daran zu knabbern. Dann starb meine Großmutter (mütterlicherseits), kurz gefolgt von meinem Onkel (väterlicherseits). Das erste Enkelkind kam etwas zu früh auf die Welt und musste eine Weile im Krankenhaus bleiben. Meine Mam kam in die Wechseljahre. Ich erinnere mich noch, wie wir versucht haben, sie davon zu überzeugen, unterstützende natürliche Hormone zu nehmen und vielleicht das Rauchen ein wenig zu reduzieren. Diese körperliche Umstellung ist ja schon für völlig gesunde Frauen eine schwierige Phase, aber für Frauen mit Depressionen sind die Wechseljahre quasi eine erhöhte Risikozeit. Was sie dazu sagte, weiß ich nicht mehr, sondern nur noch, dass ich ihr mehrere echt teure Packungen der empfohlenen sanften Hormonunterstützung gekauft habe, die monatelang ungeöffnet im Badschrank lagen. Mein Vater hatte immer noch mit den Nachwirkungen des Infarkts zu kämpfen, war ängstlich und sich seiner Sterblichkeit sehr bewusst. Das wirkte sich wiederum auf die Ängste meiner Mutter aus, vielleicht bald allein dazustehen und nicht zu wissen, wie sie mit alltäglichen Dingen umgehen müsste. Denn mein Vater war, seit sie sich ineinander verliebt hatten, der sichere Fels in ihrer Brandung, er würde immer für sie da sein, sich um sie kümmern. Es kam, wie es kommen musste: Die Geschichte wiederholte sich erneut. Ich versuchte sie noch, mit der Hilfe meiner Freundin, in eine Therapie zu bekommen, aber einen Termin in nur einer Woche bei einem Psychologen zu bekommen, ist völlig unmöglich. Die stete Antwort war: »Wenn es so dringend ist, dann weisen Sie sie ein.« Schließlich fanden wir eine Heiltherapeutin, die sofort bereit war, sie schnellstmöglich – in einer Woche – zu einem Gespräch aufzunehmen. Jetzt musste ich meine Mam nur noch dazu kriegen, hinzugehen. Vergebens. Ich hatte mir schon gedacht, dass sie es ablehnen würde, aber ich wollte nichts unversucht lassen. Meine Mam wurde schnell von der ängstlichen Frau zu einer Person, die wahnhafte Gedanken entwickelte. Irgendwie ging es diesmal so schnell – von jetzt auf gleich war meine lebensfrohe Mam verschwunden. Sachliche Informationen und Erklärungen kamen nicht mehr bei ihr an. An einem Nachmittag eskalierte die Situation erneut, sie wurde bereits aggressiv und wir fanden einen Abschiedsbrief. Mein Vater war ein Wrack und wusste weder ein noch aus. Es blieb nur, die medizinische Hilfe zu rufen und meine Mutter erneut in die geschlossene Abteilung einweisen zu lassen. Den Anruf hat meine Freundin und heutige Ehefrau gemacht, ich konnte das damals noch nicht – der Gedanke, meine eigene Mutter »wegsperren« zu lassen, war so furchtbar für mich. Es wirkte, als wollte man das Elend einfach nicht mehr sehen und ließe sie deswegen wegbringen. Den Termin bei der Heiltherapeutin habe ich dann selbst wahrgenommen und bin seit diesem Tag viele Jahre bei ihr gewesen. Ich lernte, dass es nicht meine Schuld war. Ich lernte, zu mir selbst zu stehen. Und ich lernte, mit der Krankheit meiner Mutter umzugehen.

Die Besuche in der Psychiatrie waren für mich jetzt nicht mehr so entsetzlich, ich hatte keine Angst mehr vor den verschlossenen Türen … meine Erfahrung mit der Krankheit »Depression« und ich waren erwachsen geworden. Relativ schnell wurde meine Mutter in die halboffene Abteilung verlegt und konnte an manchen Tagen nach Hause – doch das war, ehrlich gesagt, ganz furchtbar: Keiner wusste, wie er sich benehmen sollte. An einem Sonntag schlich sich meine Mama mit einem Messer heimlich ins Bad. Mein Vater hatte wohl einen sechsten Sinn und war rechtzeitig zur Stelle. Ihn hat das Ganze schwer mitgenommen und seine seelische Verfassung war an einem Tiefpunkt – all seine Kraft war aufgebraucht, auch er war leer. Aber er entschied sich dazu, sich freiwillig in eine stationäre Therapie zu begeben. Im folgenden Sommer habe ich trotz der schweren Zeit meine Hochzeit gefeiert, und Mam und Pap waren beide wieder da – zwar noch nicht so locker und albern wie sonst, aber in festlicher Stimmung.


Im nächsten Jahr feiern meine Frau und ich nun schon unseren zehnten Hochzeitstag. Bei dem wird meine Mam aber nicht mehr dabei sein. Denn vor sechs Wochen hat sie sich das Leben genommen. Das hier aufzuschreiben wirkt immer noch seltsam und so unwirklich. So als würde es nicht zu mir gehören, als schriebe ich über irgendeine Sache, über irgendetwas, das irgendjemandem passiert ist. Nur ist es nicht so. Es war meine Mama. Meine kleine Mama, die einfach nicht mehr konnte. Die mit dem Druck, der Angst, den Stimmen, dem Leben nicht mehr klarkam. Und endlich Ruhe, Frieden und Freiheit wollte. Frei – das ist sie jetzt. Das zu wissen und daran zu glauben, hilft mir durch diese Zeit.

Es ist irgendwie ganz seltsam – dieses Mal war etwas anders. Als es wieder begann und jeder von uns die Zeichen wahrnahm, machte sich in mir eine stete Unruhe breit – eine diffuse Angst, dass irgendwas passiert. Auf der anderen Seite aber war es das erste Mal, dass meine Mam mit mir darüber gesprochen hat, dass sie sich zunehmend unwohler fühlte, schlecht schlief und voller Sorgen war. Wir haben sehr häufig telefoniert, und sie erzählte mir von ihren Ängsten. Sofort versuchte ich wieder, präventiv entgegenzuwirken, obwohl ich erwachsen genug bin, um zu wissen, dass ein Mensch wie sie professionelle Hilfe braucht. Ich hörte ihr zu, empfahl viele Unterstützungsmöglichkeiten, recherchierte, ob es eventuell Antidepressiva gibt, die sie besser vertragen würde. Ermunterte sie, öfter zu ihrer Ärztin zu gehen. Zeitgleich versuchten auch meine Geschwister, ihr eine Stütze zu sein, schöne Dinge zu unternehmen und Hilfe anzubieten.

Bei meinem letzten Besuch zu Hause – an diesem Wochenende fand die Nachfeier ihres 60. Geburtstages statt – da war es wieder da, das Gefühl vom Anfang, dass diesmal etwas passieren würde. Ich habe gesehen, wie sie meine Geschwister und deren Kinder beobachtet hat – mit Tränen in den Augen, so, als wüsste sie, dass sie sie nicht mehr sehen würde. Dabei schaute sie nicht wirklich traurig, eher so, als würde sie denken, dass alles okay sei, dass jedes ihrer Kinder in guten Händen war und sie ihre Aufgabe als Mutter gut gemacht hatte. Ich konnte diesen Anblick kaum ertragen und habe mich weinend in der Toilette versteckt. Meine Frau sagte mir später, dass meine Mam auch mir ein wenig traurig hinterhergesehen hat – gerade so, als wüsste sie, dass ich es weiß. Sie hat mich an diesem Abend sehr häufig in den Arm genommen und sich so oft für alles Mögliche bedankt. Alles in mir schrie, aber was sollte ich denn machen? Das, was ich hätte tun können, habe ich getan. Doch das Gefühl, dass ich hätte noch viel mehr tun sollen, auch wenn ich nicht weiß was, wird wohl nie ganz verschwinden. Ich fragte noch einmal, ob sie alle Tabletten in der richtigen Dosis nahm und ob sie nicht doch lieber in Therapie gehen wollte. Sie erzählte mir, dass sie durch die starken Tabletten nicht mal mehr merken würde, wann sie auf die Toilette müsste, und sah dabei so resigniert aus.

Am Tag nach der Feier dachten meine Schwester und ich, dass wir tatsächlich zu ihr durchgedrungen waren. Es war ein langer Nachmittagsspaziergang, an dem sie uns ganz von allein erzählte, dass sie sich völlig überfordert fühlte und nicht mehr arbeiten wollte. Wir beide haben innerlich aufgeatmet, denn das war das erste Mal, dass sie so etwas Konkretes, Greifbares äußerte. Wir versicherten ihr, dass wir uns um alles kümmern würden, dass sie sich dem Druck nicht mehr aussetzen müsste, dass wir hinter ihr stünden. Meine Schwester legte ihr auch nochmal ans Herz, vielleicht doch in eine stationäre Therapie zu gehen, nur so lange, bis es wieder besser ist. Wir versprachen, uns in der Zwischenzeit darum zu kümmern, dass die Aspekte, durch die sie sich unter Druck gesetzt fühlte, verschwänden. Leise Hoffnung keimte in uns auf. Nur zwei Wochen später hat sie sich das Leben genommen.

Ich habe es am Telefon erfahren und meine Welt stand still – ich kann gar nicht in Worte fassen, was mir in diesem und den nächsten Momenten alles durch den Kopf gegangen ist. Viele Tage war einfach alles leer in mir, und ich konnte nicht verstehen, wie der Rest der Welt sich einfach weiter bewegte, so als wäre nichts geschehen … meine Mam war tot und ich würde nie wieder mit ihr lachen können, denn genau das habe ich eine Million Mal mit ihr getan: gelacht, bis uns die Tränen kamen. Ja, sie war eine schwer depressive Frau, aber nicht immer. Den großen Teil ihres Lebens war sie fröhlich, trällerte ständig irgendein Lied und war voller Menschenliebe. Ich habe viele Stunden damit verbracht zu weinen und traurig zu sein, weil ich mir vorstellte, wie schrecklich sie sich gefühlt haben muss. Aber das war nur ein kleiner Teil ihres Lebens. Sie war schwer krank, und letztlich ist sie ihrer Krankheit erlegen, und wir müssen lernen, damit umzugehen. Auch wenn es sich komisch anhören mag, aber ich bin sehr froh, dass meine Mam trotz alledem so alt geworden ist. Sie hat mit uns Kindern drei Hochzeiten gefeiert, fünf Enkelkinder bekommen, unendlich viele Länder dieser Welt gesehen, hatte ein schönes Häuschen, Freundinnen fürs Leben und einen Mann, der immer zu ihr gehalten hat. Klar hat mein Papa einige Ecken und Kanten, aber ich bin ihm unendlich dankbar und stolz auf ihn, dass er niemals, trotz der schweren Zeiten, daran gedacht hat, zu gehen.

Zur Beerdigung waren weit über hundert Menschen da, die meisten völlig schockiert darüber, was geschehen war: Sie war doch so ein fröhlicher Mensch. Ja, das ist es, was alle gesehen haben, aber sie war eben auch krank, und darüber wurde kaum gesprochen. In vielen Gesprächen nach der Trauerfeier haben meine Geschwister und ich von Verwandten, Freunden und Bekannten erfahren, dass sie alle auch jemanden kennen, der sich das Leben genommen hat. Das ist doch Irrsinn! Wenn alle einen Menschen kennen, der ebenfalls unter schweren Depressionen gelitten hat – warum redet dann keiner darüber, warum haben wir alle das Gefühl, damit völlig allein auf der Welt zu sein, obwohl es so viele betrifft? Psychische Krankheiten sind in unserer Gesellschaft immer noch ein absolutes Tabuthema – bei so vielen Betroffenen darf es das aber nicht sein. Ich weiß nicht, worum es dabei eigentlich geht: um Scham, dass jemand den Anforderungen der Gesellschaft seelisch nicht gewachsen ist oder um die überalterte Vorstellung, dass Menschen, die anders ticken oder keine Nerven wie Drahtseile haben, verrückt sind? Es ist mir eigentlich auch piepegal, was der Grund ist: Ich will, dass wir damit aufhören, uns und diejenigen, die wir verloren haben, oder um die wir noch kämpfen, zu verstecken. Damit können wir nicht alles verhindern, aber wir, die zurück bleiben, können füreinander da sein und diejenigen Betroffenen, die unter einer Depression leiden, müssten es vielleicht nicht so lange verheimlichen und sich dafür schämen.  

Meine Geschwister und ich telefonieren mehrmals in der Woche. Sprechen über unsere Gedanken, was wir so tun, über die Träume, die kommen, darüber, wie sich die Trauer zeigt und wie wir sie in den Alltag mitnehmen. Meine Schwester hat sich an einen Verein gewandt, der Beratung für Angehörige psychisch Erkrankter anbietet und viele Hinweise zur Trauerverarbeitung bekommen. Mein Bruder hat einen Termin in einer Ergotherapiepraxis, die ebenfalls beim Umgang mit Trauer unterstützen. Ich selbst habe diese Woche einen Kennlerntermin bei einer Therapeutin.


Es ist viel zu verarbeiten. Reden hilft. Weinen hilft. Zeit hilft. Und all die Menschen, die sich um dich sorgen und dir beistehen wollen. Auch wenn sie es vielleicht nicht so zeigen können oder dir Ratschläge wie einer Zwölfjährigen erteilen, sie wollen helfen. Nimm es an und lass irgendwann los, wenn die Zeit gekommen ist. Bei mir dauert das noch. Vielleicht bist du schon weiter oder stehst noch ganz am Anfang. Und vielleicht helfen dir meine Zeilen ein kleines bisschen. So wie mir.

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