Hamburg. Langsam schiebe ich mich mit meinem Auto durch die engen Innenstadtstraßen von Altona. Die richtige Tür zur angegebenen Adresse hatte ich jetzt schon zum vierten Mal im Blick – das Einzige, das sich mir nicht zeigen will, ist eine Parklücke. Hm. Raffiniert wie ich bin, erweitere ich meinen Radius und erspähe eine Minilücke, die, Hallelujah!, keine Einfahrt ist. Gekonnt zirkle ich mein für den Einsatz auf dem Dorf konzipiertes Auto mit dementsprechender Größe hinein und hätte nun gern eine Dusche. Kaum gedacht, öffnen sich die Schleusen, und ein dezenter Regenschauer ergießt sich über mich und mein gerade herausgehievtes Equipment. Irgendwie schaffe ich es, noch einen Schirm rauszukramen – den ich natürlich dabeihabe, bin ja schließlich in Hamburg.
Wie durch ein Wunder finde ich die Adresse auch zu Fuß wieder und drücke endlich auf den Klingelknopf. Ein fröhliches »Komm hoch, trinkst du Kaffee?« erwartet mich an der Gegensprechanlage. BÄM! Gute Laune zurück! Nachdem ich mich noch die gefühlten zwanzig Stockwerke nach oben gekämpft habe, empfängt mich Kerstin Sund, offenbar die Person zur Stimme, strahlend an ihrer Wohnungstür. Yeah, spätestens, als sie mir ihre im Flur stehende befarbkleckste Leiter als hippe Designergarderobe empfiehlt, weiß ich, dass wir definitiv auf einer Wellenlänge liegen. So liebe ich das. Wir pflanzen uns in die Küche, ich bekomme Kaffeeeee und eine Nussecke angeboten, über die wir zunächst ein längeres, sehr tiefsinniges Gespräch führen, das aber leider nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist, sorry. Dann zücke ich auch schon meine Fragen und wir legen los.
Backstage bei Kerstin Sund

Kerstin Sund ist freiberufliche Musikerin, die Gitarre, Bass und bei Bedarf diverse andere Zupfinstrumente spielt, echte Hamburgerin ist, schon mit Größen wie Herbert Grönemeyer auf der Bühne stand und deren Herz aber so richtig für Rock und Soul schlägt. Sie hat eine Zeitlang Musik studiert, sich dann aber doch für die praktischere Ausbildung in Popularmusik entschieden. Kurz hatte sie auch Gitarrenunterricht, hat sich das meiste aber autodidaktisch erarbeitet. Ihre Eltern stellten sich für Kerstin eigentlich mehr was Büromäßiges vor, auf jeden Fall aber sollte es ein sicherer Job werden – nicht wirklich ihr Ding, denn die Musik spielte schon immer die größte Rolle in ihrem Leben.
Wenn man sich mit einer Sache so intensiv auseinandersetzt, kann man das nicht nur hobbymäßig machen, dann ist das der Beruf!
Kerstin Sund
Was macht sie aber eigentlich genau und wie läuft so was ab?
Meist erhält sie einen Anruf von einer Plattenfirma, einer Agentur oder einem Musiker, der der musikalische Leiter von soundso ist. Ihr wird die Mitarbeit an einer Tour, für einen Gig oder ein Projekt angeboten, das dann und dann, häufig sehr zeitnah, stattfinden soll. Sind die Konditionen für Kerstin okay, sagt sie zu und die Vorbereitungen beginnen. Sie bekommt das Songmaterial zugeschickt, beispielsweise einige Live- und einige Studioaufnahmen der Band oder der Künstler:innen, und weiß, dass sie für den Gitarren- und/oder Basspart zuständig sein wird. Sehr selten gibt es Noten oder Ähnliches, sodass sie sich hinsetzt und ihre Leadsheets durch Heraushören selbst erstellt. Bis zur Tour oder zum Konzert muss sie sie natürlich auswendig können. Auch kann es sein, dass sie sich für bestimmte Aufträge noch neues Equipment zulegen muss, wenn etwa ein bestimmter Sound gebraucht wird. Währenddessen organisiert sie den Instrumententransport, informiert sich ausgiebig zur Band, zum Festival oder zu den einzelnen Künstler:innen, um z. B. auch den Klamottenstil zu treffen, oder verhandelt eventuell noch einmal die Gage.
Das Wichtigste bei einer Anfrage ist für mich, dass es was Gutes hat. Seien es die Menschen oder das Projekt an sich. Es geht nicht um das große Geld.
Kerstin Sund
Ursprünglich war es Kerstins großer Traum, reich und berühmt zu werden – ist ja klar. Sie wollte unbedingt auf die Bühne, spielte lange in einer eigenen Band, mit der aber leider der große Durchbruch ausblieb. Wie sie auch später noch einmal betont, war die Zeit trotzdem überhaupt nicht vertan, sondern hat ihr, im Gegenteil, wieder andere Türen geöffnet. So kamen nun auch Anfragen für Auftragsarbeit, weil man sie hier oder dort gesehen und gehört hatte. Klar hat sie zu Beginn erst mal so viel wie möglich angenommen und in verschiedenen Coverbands gespielt. Dabei musste sie sich auch durch Genres oder Songs kämpfen, die sie mittlerweile ausschließt. Gleichzeitig war es aber auch eine gute Lehrstube, weil sie von Schlager über Rock und Pop bis hin zu Jazz oder auch mal einen Tango alles spielen kann. Find ich echt cool.
Der Alltag einer Berufsmusikerin
Auf die Frage, welche Arbeitsaufgaben sie gern ein wenig vor sich herschiebt und welche sie am liebsten mag, kommt es wie aus der Pistole geschossen: »Die Auftritte sind das Beste!« Das ganze Organisieren, Verhandeln, der technische Kram liegen Kerstin nicht so und auch auf das manchmal mühselige Herausschreiben der Songs könnte sie gern verzichten. Beim Einstudieren und Perfektionieren der Songs dann wiederum ist sie in ihrem Element.
Kerstins Kund:innen beziehungsweise Auftraggeber:innen sind sehr unterschiedlich. Zum einen kommen Leute aus dem Musikerkontext auf sie zu und fragen in der Funktion als musikalischer Leiter an – die eigentliche Auftraggeberin ist letztlich die Plattenfirma oder Agentur; mit ihnen hat Kerstin aber nur ganz selten direkt zu tun. Zum anderen spielt sie am Theater – die Auswahl der Band übernimmt auch hier ein musikalischer Leiter. Tatsächlich kommen so gut wie alle Anfragen über ihr Netzwerk, das sie sich über Jahre aufgebaut hat, zustande.
Sie selbst sucht gar nicht aktiv. Finde ich ja eine total verrückte Vorstellung – und wollte gleich wissen, wie sie das denn als Anfängerin gemacht hat, als sie noch nicht auf viele Kontakte zurückgreifen konnte. Den Grundstein dafür hat der Popkurs an der Musikhochschule gelegt – hier hat sie ihre spätere Band und diverse Leute kennengelernt, die von überall aus Deutschland kamen. Zudem spielen die Dozent:innen eine große Rolle, denn sie verfügen ja bereits über weit vernetzte Beziehungen. Wenn sie der Meinung sind, dass jemand zum Beispiel super zu einem Projekt passen würde, für das gerade Musiker:innen gesucht werden, geben sie schon mal die Telefonnummern weiter. Auch hat sie während der Ausbildung in vielen verschiedenen Projekten mitgewirkt: »Du musst so viel spielen wie möglich. Je mehr du mit verschiedenen Leuten gearbeitet hast – was du natürlich auch gut machen musst – desto häufiger wirst du auch angerufen.« Der Rest ist Kontaktpflege und die eigenen Bemühungen, bestenfalls sichtbar zu bleiben.
Was das Beste an ihrem Job ist, verrät euch Kerstin selbst:
Und wo geht ihr noch das Herz auf? Bei Riesenfestivals. Die bedeuten zwar auch Riesenstress, aaaber ein Lichtermeer mit 40.000 Leuten, der Applaus und die Energie auf der Bühne und vom Publikum entschädigen sie für alles. Gleichzeitig liebt sie auch die völlig andere Atmosphäre, die im Theater herrscht – die Welt dort zu sehen, auf der Bühne zu stehen mit dem ganzen Bühnenbild, macht sie ganz selig.
Und wenn mal was schiefgeht?
Kerstin macht es total zu schaffen, wenn mal etwas nicht klappt, sie weiß, sie müsste damit lockerer umgehen. Wirklich schlimme Sachen sind aber noch nicht passiert, es sind meist kleine Dinge wie mal ein verpasster Einsatz, lacht sie. Beim PeaceXPeace-Festival, einer Benefizveranstaltung für Kinder, musste sie zum Beispiel ungefähr 50 Songs draufhaben. Hier treten verschiedene Stars auf, die alle von einer Festival-Band begleitet werden. Ganz besonders hat sich Kerstin schon auf ihren Part im Song »No Roots« von Alice Merton gefreut. Dort gibt es eine Stelle, an der die Gitarre seeehr prominent zu hören ist. Also, eigentlich. Das wääääre dann ihr Einsatz gewesen. Hätte das Effektgerät nicht gestreikt. Sehr schön konnte mir Kerstin den entsetzten Blick von Alice nachmachen, der sie schwungvoll traf. Ach ja, das Festival wurde auf Arte übertragen. War ihr unangenehm. Hätte nicht passieren dürfen. Tja. Wie sagt man so schön: Komik ist Tragik plus Zeit.
Auch zu ihrem Gig mit Grönemeyer hat sie eine Anekdote auf Lager: Logischerweise war sie ein klitzekleines bisschen aufgeregt – einerseits, nun ja, GRÖNEMEYER, und andererseits, weil sie ein Solo spielen sollte, wovor sie sowieso immer großen Respekt hat. Zeit für den Soundcheck. Kerstin ist also ein wenig hibbelig-kribbelig, denn sie will alles richtig machen. Ist ja klar. Ähnlich klar ist, dass sie es völlig in den Sand setzt – passiert ja immer, wenn man besonders gut sein möchte. Grönemeyer dreht sich also um und fragt freundlich: »Wird’s denn gehen?« Antwort Kerstin: »Ich suche noch.« Er: »Suchen wir nicht alle?« War ihr auch ein wenig unangenehm. Versteh ich gar nicht. Beim Auftritt hat dann übrigens alles geklappt.
Traumjob freiberufliche Gitarristin?
Eindeutige Antwort: Jein. Die Abwechslung, die Kerstin dieser Job bietet, ist unschlagbar, manchmal wirkt es für sie aber auch irgendwie seelenlos, nur die Musik von anderen zu spielen. Sie wäre gern wieder kreativer unterwegs, würde gern wieder mehr komponieren, denn das war eigentlich mal das Ursprüngliche. Sobald sie sich hinsetzt und einfach loslegt, bringt ihr das unglaublich viel Spaß – leider vergisst sie das allzu schnell, gibt sie zu. Der Verdienst haut sie ebenfalls nicht um, ist aber in den meisten Fällen ganz okay. Nur sehr selten werden die Vorbereitungszeit und Proben bezahlt. Für diesen Job in einer Großstadt zu wohnen, ist essenziell, sagt Kerstin. Ihrer Meinung nach kommen eigentlich auch nur Hamburg oder Berlin infrage, denn dort werden freiberufliche Musiker:innen gebraucht, sei es im Studio, für ein Konzert oder ein spontanes Projekt. Es kommt schon vor, dass es ein Argument für oder gegen eine Künstlerin sein kann – denn immer und überall müssen Aufwand und Kosten so gering wie möglich gehalten werden. Wenn für jemanden dann ein zusätzlicher Instrumententransport, Übernachtungsorganisation und -kosten hinzukommen, kann das schon über Zu- oder Absage entscheiden.
Rock‘n’Roll, Motown und Kitsch
Wenn jemand in allen Stilrichtungen zu Hause ist, bin ich natürlich neugierig, wie es dazu kam – welche Songs haben Kerstin am meisten geprägt? Ganz vorn steht »Jailhouse Rock« von Elvis, den sie schon als Kind echt tierisch fand und dessen Energie sie auch jetzt noch immer mitreißt. Ihm dicht auf den Fersen ist a-ha mit »Hunting High and Low« – eine großartige Pop-Nummer, die jetzt uralt und total kitschig, aber immer noch genial ist, sagt sie. Rockig wird’s mit »Even Flow« von Pearl Jam, die sie neben Soundgarden einfach großartig fand. Ganz wichtig sind für sie aber auch die alten Motown-Sounds.
Zum Essen einladen würde sie gern mal Trixie Whitley, eine relativ junge Sängerin und Gitarristin, die noch nicht ganz genau zu wissen scheint, wo sie mal hinmöchte, von der aber eine Wahnsinnsenergie und Faszination ausgeht. Daneben säße Carol Kaye, 1935 geboren, eine Studiomusikerin und Gitarristin, die mit den Bee Gees und vielen Motown-Bands gespielt hat – alle bekannten Bassläufe stammen von ihr. Trotzdem ist sie total unprätentiös. »Es ist einfach toll, zu wissen, dass es zu der damaligen Zeit so eine coole Socke gab, die das unter den ganzen Typen einfach so klargemacht hat«, schwärmt Kerstin.
Gedanken zur Musikbranche
Kerstin ist mit ihren 45 Jahren schon lange Teil der Musikbranche, aber in ihrer Laufbahn bisher nur einer musikalischen Leiterin begegnet, alle anderen waren und sind Männer. Das stört sie prinzipiell nicht, dennoch hat auch sie die Erfahrung gemacht, dass Männer gern unter sich bleiben, sich meist die Jobs gegenseitig zuschanzen und den Frauen einfach nicht so viel zutrauen. Dazu hat sie direkt eine Geschichte auf Lager: Bei einer Motown-Show war sie spontan für einen Freund eingesprungen, hatte sich schnell die Songs angeeignet und einen super Auftritt hingelegt, mit dem sie selbst sehr zufrieden war. Auf dem Weg von der Bühne nickte ihr der Toningenieur zu: »Ach, Frauenbonus, ja? Nur deswegen haste den Job gekriegt.« Schon das war überaus reizend, wurde aber noch mal vom Monitormenschen getoppt, der fragte: »Und, was machts du sonst beruflich?« Entgegen ihrer sonst eher gelassenen Art platzte ihr die Hutschnur und sie zählte dem Herren in aller Ausführlichkeit auf, mit wem sie schon alles auf der Bühne stand, auf welchen Alben sie zu hören ist und was sie sonst eben so macht. Dann fragte sie mit einem unschuldigen Lächeln: »Und, was machst du so?« Nun, er mischt seit 20 Jahren das gleiche Musical. Wenn das mal nichts ist.
Gleichzeitig betont Kerstin aber, dass es glücklicherweise auch wirklich viele aufgeschlossenere Leute gibt, die eingesehen haben, dass es Sinn macht, gemischte Bands zu haben und es auch einfordern, explizit Frauen zu engagieren. Etwas kleinlaut gibt sie zu, dass sie sich auch schon selbst dabei ertappt hat, wie sie dachte: „Hm, eine Schlagzeugerin, ob sie wohl gut ist?“ Das findet sie ganz furchtbar, weil die Vorurteile einfach so drin sind und sich Frauen irgendwie immer doppelt beweisen müssen.
Neben mehr Gleichberechtigung wünscht sie sich, dass sich vor allem Radiostationen wieder mehr öffnen und auch lokale Künstler:innen spielen – auf den meisten Sendern läuft immer nur dieselbe Suppe, gefühlt die gleichen fünf Songs in Endlosschleife. Da ist es auch kein Wunder, dass nur 0815-Songs produziert werden, weil die Menschen gar nichts anderes kennen. Mehr Vielfalt braucht die Welt! Yeah! Da stimmen Kerstin und ich völlig überein.
Und sonst so?
Kurz vor Ende unseres Interviews zaubert sie noch ihr Streetworkprojekt »Jamliner« aus dem Hut, das mich total umhaut: Gemeinsam mit anderen Berufsmusiker:innen fährt sie mit zwei zum Studio und Probenraum umgerüsteten Linienbussen durch Hamburgs problembehaftetere Stadtteile, um jeweils ein halbes Jahr mit den Kindern vor Ort zusammenzuarbeiten. Diese bekommen die Möglichkeit, sich an allen Instrumenten auszuprobieren, eigene Songs zu schreiben und sie aufzunehmen. Ist das mal cool? Kerstins Augen leuchten, als sie mir erzählt, wie sehr sie diese Tätigkeit erdet und wie schön es ist, so direkt zu sehen, was man mit Musik bewirken kann.
Es war ein tolles Interview, das mir Einblicke in einen Beruf, den ich mir bis dahin total anders vorgestellt habe, gegeben hat. Kerstins Rat zur Berufswahl ist, dass man einfach immer offen und abenteuerlustig bleiben sollte, dann können sich so verrückte Dinge und Möglichkeiten eröffnen – man muss nur hinsehen und zugreifen. Und was packt sie in unseren Abenteuerkoffer?
Fotografien: © Marlen Weller-Menzel