Mit Leidenschaft für rebellische Lyrik – Amy Lowell


Amy Lowell – gestern wie heute wird sie als »verschrobene Exzentrikerin« und »Mannweib« bezeichnet: Was keiner sieht, ist eine talentierte junge Frau, die gezeichnet war von einer chronischen schweren Erkrankung. Entgegen aller Konventionen schrieb sie in einer Zeit, in der man Frauen generell jegliche Art von Leidenschaft absprach, zahllose erotische Gedichte. Wenn auch postum, erreichte sie letztlich doch noch die Ehre, eine Pulitzer-Preisträgerin zu werden.

All books are either dreams or swords. You can cut, or you can drug, with words.

Amy Lowell

»Welche anständige Frau raucht Zigarre wie ein Mann, feiert den ganzen Tag, ist fett und legt keinen Wert auf ihr Äußeres? Diese Frau ist einfach nur ein Mannweib.« Ich nehme an, diese und unendlich viele ähnliche Aussagen wurden seinerzeit über Amy Lowell geäußert. Seltsamerweise musste ich nun feststellen, dass sich diese Aussagen nach mehr als 120 Jahren noch immer nicht geändert haben, lediglich die Formulierung »anständige Frau« wurde durch »emanzipierte Frau« ersetzt.

Amy Lowell – Lyrikerin aus Leidenschaft

Amy Lowell wurde 1874 in Brookline, Massachusetts, im Osten der USA in eine sehr reiche und angesehene Familie geboren. Während ihre Brüder das Privileg eines Studiums genossen und damit eine steile Karriere zum Astronomen und zum Präsidenten der Harvarduniversität durchliefen, blieben für Amy nur eine bescheidene Bildung und das Selbststudium in der hauseigenen Bibliothek.

Ich weiß nicht genau, wie das Leben eines extrem übergewichtigen Mädchens im neunzehnten Jahrhundert verlaufen ist, aber ich denke, es war im wahrsten Sinne des Wortes kein Zuckerschlecken. Was sich nur in wenigen Artikeln über Amy Lowell finden lässt, ist die Tatsache, dass sie unter einer schweren Schilddrüsenerkrankung litt. Dagegen steht fast in jedem zweiten Satz, wie opulent ihre Erscheinung war und dass sie stets bis zum Mittag schlief. Heute würde bei diesen Beschreibungen wahrscheinlich eine Hashimoto-Erkrankung bei ihr diagnostiziert werden.

Die Flucht in die Lyrik

Amy wollte wohl ursprünglich Schauspielerin werden, doch ihr Körperumfang ließ den Traum schon als Jugendliche platzen. Vielleicht war das ja der Grund, warum sie sich in einem so ausgedehnten Maße in die Lyrik floh. Bereits 1912 erschien Amys erster Gedichtband. Ihre Werke zählten zum Imagismus, einer revolutionären literarischen Gegenbewegung der Moderne zur viktorianischen Lyrik der damaligen Zeit.

Ihre erste Veröffentlichung fand nur wenig Gefallen, aber Amy gab nicht auf. So etablierte sie in ihrem Anwesen eine Art Kunst- und Kulturszene und war eine beliebte Salonnière in Brookline, Massachusetts. Ihre Bekanntheit und die ihrer Werke trieb sie durch geschickte Platzierungen in wichtigen Literaturzeitschriften und Anthologien voran. Auch ihre eindrucksvollen Vorträge, die sie ihrem schauspielerischen Talent zu verdanken hatte, trugen zu ihrem wachsenden Bekanntheitsgrad bei.

Auch wenn die gehobene Gesellschaft von Massachusetts stets über die Erscheinung von Amy und ihren sogenannten frivolen Liebes- und Lebensstil, den sie offen mit ihrer Gefährtin, der Schauspielerin Ada Russell, auslebte, lästerten, so ließen sie es sich alle nicht nehmen, sich in die wohlhabende Gemeinschaft rund um Amy einzuschleichen.

Postum zur Pulitzer-Preisträgerin

Amy Lowell

In Europa war Amy Lowell nie bekannt, und auch in den USA ist sie schnell in Vergessenheit geraten, obwohl ihr 1926 postum der Pulitzer-Preis für Lyrik zugesprochen wurde. Trotz all ihrer Verdienste als Wegbereiterin der literarischen Moderne in den USA, der Förderung von Kunst- und Kultur und dem Kampf gegen die Homophobie bleibt sie bis heute lediglich als eine dicke Exzentrikerin, die keine Spiegel mochte, lange schlief und ihre Hündinnen als Kinder bezeichnete, in Erinnerung.

Hinter der harten Schale von Amy Lowell, die wohl der einzige Schutz in einer Zeit war, in der Frauen weder füllig, selbstbestimmt, gebildet noch lesbisch sein durften, steckte eine kluge, belesene, witzige, leidenschaftliche und fantasievolle Frau, die es durch eine clevere Verwaltung ihres Familienerbes schaffte, ein Leben zu führen, dass so nah wie möglich an ihre Träume herankam.

Neben ihren lyrischen Werken schrieb sie zahllose erotische Gedichte über und für ihre Frau Ada und ein über tausend Seiten starkes biografisches Lehrwerk über den britischen Dichter John Keats, der neben Lord Byron und Percy Bysshe Shelley zu den bedeutendsten Vertretern der zweiten Generation der englischen Romantik zählt.

Manchmal trügt der Schein

Ich selbst bin keine allzu große Anhängerin der Lyrik, aber ich bin eine Anhängerin des zweiten Blicks. Amy Lowell mag sich vielleicht tatsächlich in einer männerdominierten Welt etwas »männlich« verhalten und ihre Erscheinung extra noch burschikoser vermarket haben, aber sicherlich nicht, weil sie ein Mannweib war, sondern weil ihr seinerzeit gar nichts anderes übrig blieb.

Wann immer wir heute eine Frau und ihr Verhalten bewerten, sollten wir dies nie herausgerissen aus dem Kontext ihrer Zeit tun. Mag sein, dass es wenig emanzipiert wirkt, Zigarre zu rauchen, Partys zu feiern, sich burschikos zu kleiden und vom Erbe der Eltern zu leben, aber Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war das mehr als nur eine emanzipatorische Rebellion – es war eines von vielen Steinchen, die den Weg für uns Frauen heute gepflastert hat.

Amy Lowell war keine fette, frivole und verschrobene Exzentrikerin, sie war ein Mensch – eine talentierte und kreative Frau, die ihrer Zeit weit voraus war.

Vielleicht hätte Amy gesagt …

Hätte ich die Gelegenheit, Amy zu fragen, was sie in unseren Abenteurerinnen-Koffer packen würde, so könnte ich mir vorstellen, dass sie vielleicht das Folgende gesagt hätte:

»Ich packe unseren Koffer und nehme mit: einen Stift und einen Bogen Papier, damit jede Abenteurerin die Möglichkeit hat, ihre Träume aufzuschreiben, auf dass sie sie niemals vergessen möge.«


Illustrationen: © Mariann Rose

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